Fatshaming bei Stachel&Herz

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Bodypositivity und Fatshaming – Warum wir über den letzten gesellschaftlich akzeptierten Sadismus reden müssen

Es gibt Themen, vor denen wir uns 99 Folgen lang gedrückt haben – und Bodypositivity war eines davon. Nicht, weil uns mehrgewichtige Menschen egal sind, sondern weil wir selbst mittendrin stehen in der Körper-Falle, die unsere Gesellschaft für uns aufgestellt hat. In der aktuellen Folge von „Stachel & Herz“ packen Sarah Vecera und Thea Hummel endlich das an, was sie als „den letzten gesellschaftlich akzeptierten Sadismus“ bezeichnen: Fatshaming.

Wenn die eigene Schokolade zum Verfassungsfeind wird

„Ich hab‘ ne Jeansgröße, die die Gesellschaft ‚akzeptabel‘ findet, aber jedes Mal, wenn ich abends mit Schokolade auf der Couch sitze, fühl ich mich wie ein Verfassungsfeind“, gesteht Sarah zu Beginn der Folge. Diese ehrliche Selbstreflexion zieht sich durch das gesamte Gespräch – beide outen sich als Teil des Problems und zeigen dabei auf, wie tief die gesellschaftlichen Körpernormen in uns allen verankert sind.

Der Anlass für diese längst überfällige Folge war ein „Stachel der Woche“: Ein Text über die Kuh Gloria aus den Vergleichsarbeiten der 3. Klassen in NRW und die darauf folgenden Reaktionen in Elterngruppen und auf Instagram, die einmal mehr zeigten, wie früh Fatshaming beginnt und wie selbstverständlich es in unserem Alltag geworden ist.

Von „Fat Power“ zu Instagram-Heuchelei – Eine bewegte Geschichte

Die Wurzeln der Bodypositivity-Bewegung reichen bis in die 1960er-Jahre zurück, als Aktivist*innen das erste „Fat-In“ im New Yorker Central Park organisierten und Diätbücher verbrannten. 1969 gründete sich die NAAFA (National Association to Advance Fat Acceptance), und 1973 veröffentlichte das Fat Underground ihr radikales Fat Liberation Manifesto mit der provokanten Forderung: „Ärzt*innen sind der Feind. Gewichtsverlust ist Völkermord“.

Parallel dazu entwickelte sich die Black-is-Beautiful-Bewegung, die eurozentrische Schönheitsstandards dekonstruierte. Fotograf Kwame Brathwaite inszenierte in Harlem Models mit Afro-Frisuren und unretuschierten Hauttönen – eine ästhetische Rebellion, die eng mit der Bürgerrechtsbewegung verknüpft war und Muster schuf, die sich später in der Fat Liberation wiederfinden.

Wenn Begriffe gekapert werden

Was einst als radikale politische Bewegung begann, ist heute oft zu Marketing-Geplapper verkommen. Sarah und Thea erklären die Unterschiede zwischen Body Positivity (ursprünglich bedingungslose Selbstliebe aller Körper, heute oft auf „akzeptabel dicke“ Körper reduziert), Body Neutrality (Fokus auf Körperfunktionen statt Aussehen) und Body Liberation (systemkritische Perspektive gegen kapitalistische Ausbeutung).

Besonders perfide: Konzerne wie Dove inszenieren sich mit diversen Körpern als progressiv, während der Mutterkonzern Unilever gleichzeitig SlimFast-Shakes verkauft. „Das Geschäft mit der Unzufriedenheit“ generiert jährlich 200 Milliarden USD durch die Erfindung immer neuer „Problemzonen“.

Die intersektionalen Verstrickungen

Fatshaming existiert nicht im luftleeren Raum, sondern ist eng mit Rassismus, Sexismus und Klassismus verwoben. Eurozentrische Schönheitsideale sind koloniales Erbe – die Idee, dass helle Haut, glattes Haar und schlanke Silhouetten „überlegen“ seien, diente historisch der Legitimierung von Rassismus.

Während weibliche Körper unter 24/7-Beobachtung stehen („Schwabbelarme-Check“, „Bikini Bridge“), dürfen männliche Körper altern und dick sein („Dad Bod“). Und Dicksein wird systematisch mit „Faulheit“ assoziiert, obwohl strukturelle Ursachen wie Stress, prekäre Arbeitszeiten oder der fehlende Zugang zu gesunden Lebensmitteln ignoriert werden.

Was uns wirklich helfen würde

Die Folge endet nicht bei der Problemanalyse, sondern zeigt konkrete Handlungsoptionen auf: von kritischem Medienkonsum über Sprachreflexion („Ich fühle mich heute nicht wohl“ statt „Ich bin hässlich/fett“) bis hin zu politischen Forderungen wie Anti-Diskriminierungsgesetzen, die Gewicht als geschützte Kategorie definieren.

Herz der Woche: Eine Welt ohne Körperoptimierung

Die Folge schließt mit einer offenen Frage, die zum Nachdenken anregt: „Wie würde eine Welt aussehen, in der niemand mehr Zeit/Geld/Energie für Körperoptimierung verschwendet?“ Eine Frage, die besonders im anstehenden Sommer, wenn der Körperdruck wieder zunimmt, ihre volle Berechtigung entfaltet.

Diese Folge von „Stachel & Herz“ ist mehr als ein Plädoyer für Körperakzeptanz – sie ist eine schonungslose Analyse der Systeme, die uns alle gefangen halten. Unbequem? Ja. Notwendig? Auf jeden Fall. Hört rein und lasst euch herausfordern – von einer Folge, die ihre Moderatorinnen selbst lange vor sich hergeschoben haben und die gerade deshalb so authentisch und kraftvoll geworden ist.