Es ist ungemein erhellend, mal die Perspektive zu wechseln. Darum empfehle ich hier in unregelmäßiger Reihenfolge, komplett subjektiv, Romane von Autor*innen of Color, die ich spannend finde.
Yvonne Adhiambo Owuor, Das Meer der Libellen. Dumont 2020, 608 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-8321-8114-7
Yvonne Adhiambo Owuor, geboren 1968, ist eine kenianische Schriftstellerin. Sie lebt in Nairobi.
Ein Brocken von einem Buch. Für den Urlaub oder ein sehr langes, sehr faules Wochenende. Denn dieses Buch erzählt langsam, verlangt Zeit.
Die Geschichte taucht ein in das Leben von Ayaana, die mit ihrer alleinerziehenden Mutter Munira auf der Insel Pate vor der kenianischen Küste aufwächst. Sie hat eine besondere Beziehung zu Muhidin, der nach Jahren auf See zurückkehrt und für Ayaana Vaterfigur, Lehrer und Mentor wird. Er liest mit ihr muslimische Mystik, singt mit ihr Bollywood-Schlager, lehrt sie Mathematik, Geography, Geschichte, Astronomie und Poesie, und bringt ihr bei, mit ihrem inneren Auge die Stimmung des Meeres zu erfassen.
Pate ist abgelegen, aber Gerüchte und Gerede sorgen für Spannungen unter den Bewohner*innen. Und die große weite Welt schwappt immer in das kleine Leben hinein. Ein Islamist taucht auf und verschwindet wieder. Muhidins Sohn Ziriyab wird von schwarz angezogenen Wesen entführt. Amerikanische Freiwillige bauen einen Brunnen. Und schließlich erscheint eine chinesische Delegation, die in Ayaana die Nachfahrin des chinesischen Generals Zheng He vermutet, der im 14. Jahrhundert mit seiner Flotte von China bis Kenia segelte. Ayaana wird ausgewählt, als Stipendiatin in China zu studieren. Die Reise von Mombasa nach Xiamen auf einem chinesischen Frachter verläuft abenteuerlich. Ayaana und Lai Jin, der Kapitän, verlieben sich, müssen sich aber am Ende der Reise trennen. In China wird Ayaana herumgereicht wie eine Trophäe, bleibt aber in ihrem Studierendenheim einsam und isoliert. Ihr türkischer Mitstudent Koray beschließt, sie zu erobern, und nimmt sie zu einem Besuch bei seiner reichen und politisch einflussreichen Familie in Istanbul mit. Ayaana flieht vor seiner besitzergreifenden Art zurück nach China. Später trifft sie Lai Jin wieder. Nach einer Zeit im Gefängnis lebt er als Künstler in einem einsamen Haus an der Küste. Als Ayaana nach Abschluss ihres Studiums nach Pate zurückkehrt, folgt er ihr.
In der kurzen Zusammenfassung klingt die Geschichte kitschig, und Owuors poetische Sprache überschreitet die Grenzen zum Kitsch gelegentlich durchaus. Auch die politische Botschaft, dass Afrika (wie Ayaana selbst) ein Spielball von Mächten ist, die nur auf Ausbeutung aus sind, wird manchmal arg dick aufgetragen.
Und trotzdem hat mir das Buch gefallen. Vor allem deshalb, weil hier aus einer marginalisierten Perspektive über Globalisierung erzählt wird. Der Anschlag auf das World Trade Center und Amerikas Kampf gegen den Terrorismus, chinesische Fischereipolitik oder die Ausbreitung von Al Qaeda: Alles hat Auswirkungen auf das Leben der Menschen in Pate, auch wenn sie kaum wissen, was passiert ist. Das macht sie zugleich naiv und hellsichtig: Zum Beispiel heißen die Amerikaner für die Insulaner nur „die Terrorisierten“, auch wenn sie wie Eroberer auftreten.
Owuors Erzählstil war mir am Anfang sehr fremd, ich musste mich erst einlesen. Aber dann entwickelt das Buch einen geradezu magischen Sog. Die Geschichte mäandert, philosophiert, dreht Schleifen, erzählt von Dschinns ebenso wie von großer Politik, verzweigt sich immer wieder in Nebengeschichten, führt neue Personen ein, wechselt die Perspektive… und verlangt von den Leser*innen, sich Zeit zu nehmen, stundenlang einzutauchen. Beim häppchenweisen Lesen funktioniert dieses Buch vermutlich nicht.
Darum: Als Urlaubslektüre definitiv empfohlen!
Von Claudia Währisch-Oblau