oder „die Terroristin an meinem Biertisch…“ – eine Anekdote. Vorgestellt wird zunächst die Dissertation von Anja Weiß aus 2001 „Rassismus wider Willen“, überarbeitet im Jahr 2012. Was macht eine 20 Jahre alte wissenschaftliche Arbeit für den heutigen Diskurs so interessant? Es ist eine originelle Arbeit. Es ist auch eine wissenschaftliche, vielschichtige Arbeit, durch die man sich an einigen Stellen hindurchkämpfen muss, aber vor allem ihre Rassismus relevanten Beobachtungen haben von ihrer Bedeutung und Aktualität nichts verloren.
Dominante und Dominierte
Auf über 320 Seiten analysiert die Autorin – eine weiße deutsche Soziologin – rassistische Alltagspraktiken und Strukturen in Institutionen. In dem empirischen Teil der Arbeit wertet sie Gruppendiskussionen und Rollenspiele mit antirassistisch engagierten Realgruppen aus und zeigt auf, wie offene Rassismen kompetent vermieden und wo rassistische Effekte trotz größter antirassistischer Bemühungen auftreten.
Dazu greift sie auf das binäre Begriffspaar „rassistisch Dominante“ und „rassistisch Dominierte“ zurück. Mit Hilfe dieser Begriffe wird die oftmals unsichtbare, aber dennoch tatsächlich vorhandene und manchmal auch perfide Machtasymmetrie und das damit einhergehende jeweilige Überlegenheits- bzw. Unterlegenheitsverhalten mit der entsprechenden Selbstwahrnehmung beschrieben. Denn letztlich geht es bei rassistischen Praktiken immer auch um die Ausübung von Macht.
Warum engagieren sich weiße Deutsche gegen Rassismus?
Bezüglich der antirassistischen Mobilisierung von antirassistischen Dominanten stoßen wir bei Anja Weiß auf eine spannende Forschungsfrage: „Es ist erklärungsbedürftig, wenn sich Menschen gegen Rassismus engagieren, denen Rassismus auf den ersten Blick egal sein könnte. (…) Die antirassistische Bewegung wäre dann eine Auswahl von besonders wohlmeinenden oder von besonders aufgeklärten Menschen.“ (S. 19). Und auf Seite 268 schreibt sie: „Einerseits bekämpft ihn (den Rassismus) die gebildete Mittelschicht aus voller Überzeugung und andererseits wählt sie Methoden, die die Bedingungen des Spiels unangetastet lassen, aus welchem sie selbst ihren Vorteil zieht.“ Aber warum engagieren sich dann weiße Deutsche gegen Rassismus? „Aus Gründen der klassenspezifischen Distinktion“, so Anja Weiß, vor allem der gebildeten Mittelschicht, die sich durch ihr moralisch-kulturelles Kapital gegenüber der Unterschicht klassenspezifisch unterscheiden will. (S. 267-278)
Weiß sieht antirassistisches Engagement zudem als Zeichen von Progressivität, der eigenen internationalen Orientierung und von überlegender Moral. Diese Bewertung darf jedoch nicht als Abwertung verstanden werden, denn ihre Einschätzung führt zu einer positiven Perspektive: „Das weckt die Hoffnung, dass das Mobilisierungspotenzial der antirassistischen Bewegung nicht durch die unbewusste Amoral der Bevölkerungsmehrheit auf wenige „Gute“ beschränkt bleiben muss, sondern dass sich die Attraktivität des Antirassismus im Rahmen von politischen und symbolischen Kämpfen steigern lässt.“ (S. 268-269)
Zwei unterschiedliche Rassismuslogiken
Interessant ist außerdem der Verweis auf die Rassismuslogiken des französischen Rassismusforschers Michel Wieviorka. Er unterscheidet zwischen der herabwürdigenden und der differenzialistischen Logik von Rassismus und greift zur Begründung auf unterschiedliche historische Situationen zurück: „Die herabwürdigende Logik fügt sich ein in den modernen assimilatorischen und kolonisierenden Zugriff auf die Welt, während der differenzialistische Rassismus eher die Folgen der Entkolonialisierung – die Migration in die „Mutterländer“ und die sich hieraus ergebende postmoderne Multikulturalisierung – abwehrt.“ (S. 27) Die erste Kategorisierung wird nachvollziehbar, wenn man sich die überheblichen Verhaltensweisen mancher deutschen Touristen im Ausland vor Augen führt. Der zweite Rassismustyp lässt sich hingegen problemlos auf den heutigen Rassismus gegen Migrant*innen in Deutschland anwenden. Dazu später eine kleine Anekdote.
Blinder Fleck in der Antirassismus-Diskussion
Die zur Gruppe der Dominanten gehörende Weiß, die sich selbst als antirassistisch engagiert beschreibt, weist außerdem auf einen wesentlichen blinden Fleck in der Antirassismus-Diskussion hin, der das Verständnis auf Seiten der rassismuskritischen Dominanten erschwert, nämlich den fehlenden Zugang zur Perspektive der Dominierten: „Klassen, die Anspruch auf die Kontrolle des dominanten Diskurses erheben, müssen ihre eigene Weltsicht für zentral, neutral und normal halten. Schon die Möglichkeit, dass es andere Perspektiven geben könnte, würde symbolische Gewalt in Frage stellen. (…) Zwar können die Dominanten über Kommunikation Zugang zur Perspektive der Dominierten gewinnen. Sie verfügen aber, gerade was Rassismus angeht, nicht über gemeinsame oder strukturhomologe Erfahrungen.“ (S. 221)
Gute Diskurse = gute Gesellschaft?
Mit Blick auf die in unserer Gesellschaft vielfach anzutreffenden antirassistischen Diskurse stellt die Autorin noch einen sehr konkreten Anspruch an das antirassistische Engagement: „Antirassismus ist eine voraussetzungsvolle Angelegenheit und er formiert sich nicht von selbst, (…) er ist vielmehr an soziale Voraussetzungen geknüpft. Das Argument ist also, dass gute Diskurse noch keine gute Gesellschaft machen. Oder anders: dass nicht die Reflexion auf unsere Diskurse, sondern erst die Reflexion auf das, was unsere Praktiken bestimmt, langfristige Effekte der Inkorporierung eines antirassistischen Habitus ermöglicht.“ (S. 10)
Mit anderen Worten: Es geht nicht darum, antirassistische Lippenbekenntnisse zu diskutieren, sondern konkrete strukturelle antirassistische Maßnahmen. Jeder Mensch, der in unserer Gesellschaft von Rassismus betroffen ist, weiß, dass diese Aufforderung heute aktueller und opportuner ist denn je.
Strukturelle antirassistische Maßnahmen
Wie könnten strukturelle antirassistische Maßnahmen konkret aussehen? Zunächst wären die Anerkennung und Wertschätzung von Kompetenzen rassistisch dominierter Menschen wichtige Voraussetzungen für die tatsächliche Akzeptanz struktureller antirassistischer Praktiken. Die entscheidende Maßnahme ist aber die flächendeckende und vollständige Einbindung von „rassistisch Dominierten“ in die Entscheidungsprozesse von Leitungsgremien unserer Institutionen und damit sozusagen die Aufnahme in den Kreis der „rassistisch Dominanten“. Nur so ließe sich die bis heute vielfach tradierte Machtasymmetrie zu Ungunsten rassistisch dominierter Menschen effektiv aufbrechen und aufheben.
Eine Anekdote
Zum Abschluss eine kurze Geschichte, die mir an einem Freitagnachmittag im Sommer 2021 in Wuppertal passiert ist. Ich war mit einer Freundin in einem Biergarten verabredet. Ich kam eine halbe Stunde zu früh. Der Biergarten war gut besucht, deshalb fragte ich ein Paar an einem langen Biertisch sitzend, ob ich mich dazusetzen könnte. Das Paar, eine Frau und ein Mann, lud mich ohne Zögern an ihren Tisch ein.
Es entwickelte sich schnell ein freundliches Gespräch. Während ich mittlerweile vor Kaffee und Kuchen saß, kam die Rede auf die „Flüchtlingskrise 2015“. Der Mann erzählte wie folgt: „Die Flüchtlinge haben ja jetzt alles. Sie wohnen hier, arbeiten nicht und bekommen Geld, Hartz IV. Ich frage mich aber manchmal, woher sie das Geld haben, um sich so teure Jacken zu kaufen. Es müssen auch immer Jacken von bestimmten Marken sein. Ich kann mir die nicht leisten und ich gehe jeden Tag arbeiten.“ Die Frau unterbrach den Mann abrupt: „Pass mal auf, was Du hier sagst. Du kommst vielleicht nicht mehr lebendig nach Hause, wenn Du jetzt hier so weiterredest. Wenn Du gleich durch den Wald gehst, wirst Du von hinten mit dem Messer erstochen…“ Dabei lachte sie mich an.
Mir blieb der Kuchen im Hals stecken, denn ich verstand plötzlich: Die meinen mich! Ich hatte eine Softshell-Jacke an, ein Markenprodukt. Und in diesem Augenblick wurde mir wieder bewusst, dass man mir meine teilweise arabische Herkunft zweifellos ansieht. Das reicht in diesem Land schon aus, um pauschal als Belastung der Sozialsysteme und potenzielle Terroristin, die jetzt hier mit am Biertisch sitzt, abgestempelt zu werden. Die beiden gehörten übrigens eher nicht der gebildeten Mittelschicht an. Durch ihre subjektive Dominanz fühlten sie sich aber offenbar berechtigt, ihre stereotype Weltsicht einfach auf mich zu projizieren und sich dann auf meine Kosten darüber lustig zu machen. Ich war fassungslos und sagte nichts mehr.
Ich war froh, als meine Freundin kurz darauf kam. Als ein anderer Tisch frei wurde, wechselten wir die Plätze.
Martina Pauly, VEM