Wir können mehr sein

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Aminata Touré, Wir können mehr sein. Die Macht der Vielfalt, KiWi 2021, 266 Seiten, 14 Euro

ISBN 978-3-462-00061-0

Wir können mehr sein. Der Titel von Aminata Tourés Buch lässt sich auf mindestens zwei verschiedene Weisen verstehen:

1. Wir Menschen mit migrantischem Hintergrund können mehr sein. Wir haben mehr Fähigkeiten und Erfahrungen, als die Mehrheitsgesellschaft wahrhaben will. Wenn wir uns zu unserem vollen Potential entfalten können, hat die gesamte Gesellschaft etwas davon.

Oder aber, 2. Wir Menschen mit migrantischem Hintergrund und diejenigen, die mit uns verbündet sind, könnten mehr bewegen, wenn mehr von uns in politischen Parteien aktiv wären.

Beide Themen spielen in Tourés Buch eine große Rolle. Touré, Jahrgang 1992, ist Abgeordnete der Grünen im schleswig-holsteinischen Landtag und seit dem 28. August 2019 Vizepräsidentin des Landtags. Sie ist prominent, weil sie als junge Schwarze Frau eine politische Machtposition innehat und damit eine totale Ausnahmefigur ist – die jüngste Landtagsvizepräsidentin der deutschen Geschichte und sicherlich die einzige, die in einer Flüchtlingsunterkunft geboren ist.

Übrigens: Außer dem Haller SPD-Bundestagsabgeordneten Karamba Diaby kannte ich bisher keine weitere Schwarze Politiker*in in Deutschland. Dass es auch eine afrodeutsche Europaparlamentarierin und zwei (ZWEI!) afrodeutsche Stadträtinnen gibt, habe ich erst bei der Recherche für diesen Artikel gelernt. (https://www.dw.com/de/afrodeutsche-politiker-die-unbekannten/a-53369242) Die ca. 1 Million afrodeutscher Menschen sind damit aber wohl kaum ausreichend parlamentarisch repräsentiert!

Ich habe beide Themen in Tourés Buch sehr intensiv wahrgenommen. Aufgewachsen mit einer allein erziehenden Mutter, die trotz ihrer akademischen Ausbildung in Mali gezwungen war, als Geflüchtete in Deutschland in Aushilfsjobs zu arbeiten, konnte sie Abitur machen, studieren, sich in der Politik etablieren. Ihr Aufstieg gelang gegen strukturellen Rassismus und Ungerechtigkeiten und gegen alle Erwartungen der Mehrheitsgesellschaft.

Tourés Mutter formuliert das in aller Deutlichkeit in einem bewegenden Kapitel in der Mitte des Buchs: „Unsere Kinder haben viel durchgemacht. Ihnen wurde in vielen Momenten vermittelt, dass sie sich nicht zu viele Illusionen machen sollten, dass ihren Ambitionen Grenzen gesetzt sind. Unter diesen Umständen war ein besonderes Maß an Charakterstärke und Entschlossenheit erforderlich, um die niederträchtigen Vorurteile zu überwinden, um zu sich selbst zu finden und zu bestehen. Das Scheitern jedoch bleibt der wahrscheinlichste und der von den meisten erwartete Ausgang. Wohingegen der Erfolg als purer Zufall gewertet wird. Er überrascht und manchmal stört er. Dabei ist es klar, dass diese Kinder sich oft doppelt anstrengen mussten, um das gleiche Ergebnis zu erzielen.“

Touré wehrt sich dagegen, dass ihre Karriere als Beweis dafür genommen wird, es gebe in Deutschland keinen Rassismus mehr. „Noch mal, und immer wieder: Es geht nicht darum, dass eine Person aus einer Minderheit es schafft, und dann ist alles erreicht. Es geht darum, dass wir die gleichen Träume haben können, sie laut aussprechen können, ohne dass jemand lacht. … Wie bereit wäre diese Gesellschaft für eine Schwarze im Vorstand eines DAX-Konzerns? Für eine Schwarze Kanzlerin? … Ich habe es lange nicht einmal gewagt, bestimmte Dinge zu träumen, weil sie mir vermessen vorkamen. … Und wer sich schon im Träumen beschränken muss, der ist nicht frei oder gleichgestellt.“

Touré beschreibt, wie sehr sowohl Bildung als parteipolitisches Engagement vor allem denen offen stehen, die ausreichend Zeit und Geld haben. Sie hätte nach dem Abitur gern ein Jahr im Ausland verbracht. Aber der Verlust ihres Kindergeldes hätte für ihre Mutter und ihre Schwester die Konsequenz gehabt, ihre Miete nicht mehr bezahlen zu können. Touré selbst konnte studieren, weil sie BAFÖG bekam. Als aber das BAFÖG-Amt nicht sofort im ersten Monat ihres Studiums mit den Zahlungen begann, musste sie sich Geld von Freund*innen leihen, da sie nie Rücklagen bilden konnte. „Ich schämte mich in Grund und Boden“ – strukturelle Armut ist mit individueller Scham besetzt!

Und in der Politik kommt man meistens nur dann voran, wenn man sich lange Stunden ehrenamtlich engagiert und erst mal ein paar unbezahlte Praktika macht – aber auch das können sich nur diejenigen jungen Menschen leisten, deren Eltern sie großzügig finanzieren können. Wenn ich lese, wie Touré studierte und nebenher viele Stunden jobbte, bekomme ich riesigen Respekt vor dem, was sie geleistet hat. Und gleichzeitig macht es mich wütend, dass das überhaupt nötig war; dass es in diesem reichen Land nicht gelingt, auch Menschen mit niedrigem Einkommen und keinem Vermögen Chancengleichheit zu bieten!

Tourés Buch ist aber auch ein leidenschaftliches Plädoyer dafür, sich in politischen Parteien zu engagieren. „Man ist in der Politik, weil man etwas verändern möchte. Und das geht am besten in Regierungsverantwortung. … Was linkes Regieren bedeutet, habe ich noch kaum mitbekommen. … Was linke Vorstellungen von Gesellschaft angeht, ist eine Leere entstanden, sodass selbst Angela Merkels Konservatismus als sozialdemokratisch durchgehen konnte. Wir [d.h. die Grünen ]haben uns nicht getraut, tatsächlich linke Positionen zu vertreten … Wir schimpfen den ganzen Tag darüber, dass wir unsere Ideen nicht durchsetzen können, weil die politischen Mehrheiten konservativ sind, sowie die staatlichen Strukturen, dabei sind wir es, die unfähig sind, die Menschen davon zu überzeugen in diese Strukturen reinzugehen. Jedenfalls die, die bereit sind, sich überzeugen zu lassen: Denn wenn sich die Menschen, die ein ernsthaftes Interesse daran haben, unser Zusammenleben anders zu gestalten, zu fein sind, in politische Institutionen zu gehen, wird es schwierig.“ Politik bedeutet Kompromisse, das beschönigt Touré nicht. Und sie weiß von der Angst von BIPOCs, nur als Aushängeschild missbraucht zu werden. Aber sie sagt auch deutlich, dass Tokenism nur aufgebrochen werden kann, wenn viel mehr BIPOCs in politischen Parteien aktiv werden.

Tourés Buch verbindet Autobiographisches mit politischen Einsichten. Es ist getrieben von einer konstruktiven Wut: Die Verhältnisse sind nicht richtig; sie arbeitet daran, das zu ändern. Und dafür sucht sie Verbündete. Ich hoffe, dass viele dieses Buch lesen und sich davon herausfordern lassen!

Von Claudia Währisch-Oblau