„Schlief die Kirche?“ – 10 Jahre NSU Komplex als Herausforderung rassismuskritischer The’logie

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von Johannes Krug

„Hinter der Sache waren die Nazischweine und so. Das ist doch ganz einfach, ich kenne meine Feinde eigentlich, sage ich mal so.“ – Von wem stammen diese Worte und wer hörte sie?

Am 6. Mai 2006 beteiligten sich in Kassel mehr als 2000 Menschen an einem Schweigemarsch. Die Familien Yozgat, Şimşek und Kubaşık hatten zusammen mit Unterstützern und der türkischen Gemeinde dazu aufgerufen. Einen Monat zuvor waren Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat ermordet worden. Die Reden, Banner und Bilder von ermordeten Menschen zeugen davon, dass die Betroffenen des NSU-Terrors die Mordserie als gegen sie gerichtete erkannten. Während mediale Spekulationen und behördliche Ermittlungsarbeiten nur so vor Rassismus trieften, forderten die Teilnehmenden endlich richtige Ermittlungen. Um Gerechtigkeit für ihre Angehörigen zu erstreiten und um ein zehntes Opfer zu verhindern.

In einigen Videosequenzen von diesem Tag ist ein Banner zu sehen, auf dem steht: „Schläft der Innenminister?“. Aus kirchenpolitischer Sicht muss heute ebenso gefragt werden: „Schlief die Kirche?“. Zehn Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU-Komplex stehen wir weiterhin vor vielen Herausforderungen.

Wir, das meint eine aktive Zivilgesellschaft, die sich dem rechten Terror in dieser Gesellschaft entgegen stellen möchte. Wir, das meint Menschen in sozialen Bewegungen, die die Morde des NSU nicht als neonazistische Taten erkannt und nicht mit den Betroffenen gekämpft haben. Wir, das meint auch Menschen in kirchlichen Kontexten, deren the‘logische Praxis von den Taten des NSU-Komplex und dem Ringen der Angehörigen um Aufklärung nicht unberührt bleiben sollte. Wir sollten alle aus diesen Fehlern lernen, gemeinsam erinnern, uns weiterbilden und weiterkämpfen. Nach zehn Jahren und in zehn Jahren.

Eine kritische Analyse des gesellschaftlichen Umgangs mit dem NSU-Komplex macht insbesondere zwei Dinge sichtbar. Erstens zeigt sie, auf welche Weise Rassismus das Handeln der Einzelnen prägt und mit Strukturen alltäglicher Diskriminierung und Ausgrenzung in weiten Teilen der Gesellschaft verknüpft ist. So kann erklärt werden, wie ein rassistischer Diskurs verfangen und ein Unwort wie „Dönermorde“ die Untaten vermeintlich erklären konnte. Die Betroffenen und Opferangehörigen wurden dabei zu Projektionsflächen rassistischer Phantasien, während ihre klaren Hinweise auf rassistische Motive medial nicht wiedergegeben wurden. Gleiches gilt für die ermittelnden Polizeibehörden, die mit ihren kulturalistischen Stereotypen und Schuldzuweisungen die Familien der Opfer über Jahre bedrängten. 2021 ist also nicht nur zehn Jahre Selbstenttarnung, sondern ebenso 21 Jahre Beginn der rassistischen Ermittlungen gegen die Familie Şimşek in Nürnberg.

Zweitens kann benannt werden, wie durch diesen Komplex rechter Terror vertuscht und von staatlicher Seite mitfinanziert wurde. Dies wird zum einen in Aussagen von Nazis und V-Männern wie Tino Brandt sichtbar, der mit dem erhaltenen Geld den Thüringer Heimatschutz, Politisierungsumfeld des NSUs, finanzierte. Brandt selbst war einer von über 40 V-Personen im Umfeld des NSUs, welche mit Andreas Temme in Kassel teilweise sogar bei den Morden anwesend waren. Zum anderen lässt sich in der Blockade und aktiver Verhinderung von Aufklärung durch Mitarbeitende des Bundesamt für Verfassungsschutz und von Seiten der Bundesanwaltschaft, eine Staatsraison ausmachen. Diese will den möglichen Schaden an staatlichen Institutionen maximal minimieren. Die Verhinderung einer Staatskrise, eine funktionierende Wirtschaft und das Vertrauen des Kapitals in die (rechtsstaatlichen) Institutionen wird als wichtiger erachtet als das Verhindern und Aufklären von Morden an rassifizierten Menschen. Deren Verunsicherung und Vertrauensverlust angesichts einer rassistischen Mordserie erscheinen dieser Raison folgend als relativ irrelevant.

Beispielhaft steht hierfür das Verhalten von Lothar Lingen, der am 11. November 2013 zahlreiche verfahrensrelevante Akten schredderte und in seiner Befragung durch das BKA offen zugab, dass er die Geheimdienste entlasten wollte. Der Antrag der Nebenklage im ersten NSU-Prozess in München Lingen als Zeuge zu laden, wurde durch das Gericht abgelehnt und eine Strafanzeige nicht weiter verfolgt. Ebenso schockierend liest sich der Mitschnitt eines Telefongesprächs zwischen dem Geheimschutzbeauftragten des hessischen Verfassungsschutzes und seines Kasseler Kollegen Andreas Temme nach dem Mord an Halit Yozgat „Ich sage ja jedem, wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert, bitte nicht vorbeifahren.“ Hier kommt zum Ausdruck wie Rassismus als Regulationsweise in unseren Gesellschaften geduldet wird. Weiter gedacht ist er auch eine Grundkonstante im Kontext des europäischen Grenzregimes und der Arbeitsmarktpolitik.

In den vergangenen zehn Jahren ist viel passiert, was diesen status quo herausgefordert hat. Die Opfer, Angehörigen und Betroffenen wandten sich an die Öffentlichkeit mit Büchern, Reden und Interviews und machten vielfach klar, dass sie mit dem Prozessverlauf in München nicht einverstanden sind. Dieser wurde kritisch von der Nebenklage und NSU Watch begleitet, durch deren Intervention und Dokumentation wichtige Fragen erst erörtert wurde (oder von der Bundesanwaltschaft wegignoriert). Im Mai 2017 fand das Tribunal „NSU-Komplex auflösen“ in Köln statt und formulierte eine zivilgesellschaftliche Anklage der Vielen. In dieser vielfätligen Arbeit wurde eines besonders deutlich: die Perspektive der Betroffenen ist unumgehbar. Entgegen der rassistischen Marginalisierung vor 2011 erhielten sie uneingeschränkte Deutungsmacht. Oder wie Ibrahim Arslan, Aktivist und Überlebender des Brandanschlags von Mölln 1992, es ausdrückt: „Opfer und Überlebende sind keine Statisten, sie sind die Hauptzeugen des Geschehenen.“

Diese Perspektive und Erfahrung wird mit dem Stichwort „migrantisch situiertes Wissen“ anerkannt. So liegt das Wissen zum NSU-Komplex zuallererst nicht in Institutionen oder Behörden, sondern auf der Keupstraße oder bei Menschen wie Demircan Harun, der 2006 die Demo in Kassel anmeldete und von dem die Worte zu Beginn dieses Artikels stammen. Er richtete sie an den hessischen Rundfunk, der ihnen jedoch kein Gehör verschaffte.

Eine rassismuskritische The‘logie sollte an diesen Erfahrungen und Geschichten ansetzen und den NSU-Komplex als bleibende Herausforderung ernst nerhmen. In einem zweiten Schritt fordern rechter Terror, Alltagsrassismus und Antisemitismus zu einer klare the‘logischen und kirchlichen Positionierung und Solidarisierung auf. Mit Kameron Carter weitergedacht, müsste darin auch weiße Dominanzkultur als theologisches Problem benannt werden.

Carter tritt für eine christliche The‘logie ein, die ihre eigene Existenz im jüdischen Körper von Jesus begründet sieht. Im Aufkommen der kapitalistischen Moderne, dem Kolonialrassismus und insbesondere in den philosophischen und theologischen Debatten zur Judenfrage im 18. und 19. Jahrhundert, habe sich christliche The‘logie in Europa seiner jüdischen Wurzeln entledigt. Die Welt wurde nach dem Bild der weißen Dominanz neu erschaffen und die europäische Hegemonie damit abgesichert. Wenn in der kritischen Weißseinsforschung weiß v.a. für eine konkrete gesellschaftliche Positionierung steht, verwendet Carter den Begriff historisierend für ein Regime politischer, kultureller und wirtschaftlicher Macht. In beiden geht es nicht um Hautpigmentierungen, sondern um die Kritik weißer Vorherrschaft.

Für Carter führt die Kritik an Weißsein zu einer Überwindung weißer scholastischer Vernunft. The’logie dürfe nicht länger auf Kantsche Art das Unternehmen des Bildungsbürgertums oder einer religiösen Elite sein, sondern solle vielmehr innerhalb des konkreten, alltäglichen Kontextes von Leben und Tod mit the‘logischer Vorstellungskraft sprechen.[1] Auf diese Art könne das konstante Problem der Abstraktion in weißen The’logien und im europäisch-amerikanischem Rassismus, welches bereits James Cone erkannt habe, überwunden werden und die weiße Deutungsmacht herausgefordert werden.

Bezogen auf unseren gegenwärtigen Kontext liegt das Problem weniger in der Stummheit von marginalisierten Menschen, sondern in der Unfähigkeit von privilegierten Menschen empathisch zuzuhören. Ayşe Güleç hat auf diese Ignoranz und Empathieverweigerung der weißen Dominanzgesellschaft im NSU-Komplex aufmerksam gemacht und mit dem Begriff silencing gefasst. Viele kirchliche Akteure, Institutionen und Mitglieder sind Teil der weißen Dominanzgesellschaft. Es liegt also auch an ihnen historisch und the*logisch aufzuarbeiten, inwiefern sie in den Prozess des silencing der Überlebenden des NSU-Terrors verstrickt waren.

Die Morde und Anschläge des NSU-Komplex, aber auch der nachfolgenden Rassismus stellen eine Zäsur dar. Im kirchlichen Milieu hat die Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus (BAG K+R) das Thema seit der Selbstenttarnung 2011 sehr ernst genommen. Die Herausforderung der Zukunft wird einerseits darin bestehen, ähnliche Bündnisse in der Breite und von unten aufzubauen. Die Erfahrung des NSU-Komplex zeigt, dass es starker selbstorganisierter Netzwerke bedarf, die selbst für Aufklärung sorgen statt ohnmächtig an den Staat zu appellieren. Andererseits ist es vor allem an den weiß-geprägten Gemeinden und Aktiven die eigene Monoethnizität zu erkennen und aufzubrechen. Eine rassismuskritische The‘logie kann dabei helfen, dass auch kirchliche Kontexte in der Breite in unserer postmigrantischen Gegenwart ankommen und rechtem Terror die Grundlage entziehen.


[1]Vgl. Carter 2008: 372. Wörtlich fragt er: „What does it mean to speak with theological imagination from within crises of life and death rather than in scholastic universes and out of disposition of scholastic reason in the mode of the religious, the disposition whose condition of possibility turns from such painfully real worlds?“ (Carter 2008: 377).