Claudia liest: Shida Bazyar

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Es ist ungemein erhellend, mal die Perspektive zu wechseln. Darum empfehle ich hier in unregelmäßiger Reihenfolge, komplett subjektiv, Romane von Autor*innen of Color, die ich spannend finde.

Shida Bazyar, Drei Kameradinnen. Kiepenheuer & Witsch 2021, 350 Seiten.

ISBN 978-3-462-05276-3

In diesem Roman redet die Ich-Erzählerin Kasih ständig mit mir. Mit einer deutschen, weißen Frau, privilegiert in einem bildungsbürgerlichen Haushalt aufgewachsen und sich für weltoffen und tolerant haltend. Und fordert mich permanent heraus, meinen Blick auf die Wirklichkeit zu überprüfen – ihre und meine Wirklichkeit.

Ihre Wirklichkeit: das ist die Geschichte der drei Freundinnen Kasih, Hani und Saya. Saya, das erfahren wir aus einem Zeitungsartikel am Anfang, soll aus (islamistischer?) Wut ein Haus angezündet haben; der Brand forderte mehrere Menschenleben.

Kasih erzählt vom gemeinsamen Aufwachsen in einem abgehängten Stadtviertel, von ersten Experimenten mit Sex, von Partys und Wohngemeinschaften. Und immer wieder von alltäglichen Diskriminierungserfahrungen. Davon, dass sie immer die anderen bleiben. Und erzählt dabei permanent gegen alle Arten von verständnisvollen Klischees an.

Schon auf der ersten Seite erklärt sie: „Ich möchte fair bleiben, alle Missverständnisse aus dem Weg räumen und von vornherein erklären, wer ich bin und wer ich nicht bin. Ich bin nicht: die Ausgeburt der integrierten Gesellschaft. Ich bin nicht: Das Mädchen, das ihr euch angucken könnt, um mitleidig zu erklären, ihr hättet euch mit den Migranten beschäftigt und es sei ja alles so dramatisch, aber auch so bewundernswert. Ich bin nicht: Das Mädchen aus dem Getto.“

Kasih erzählt. Atemlos, lässig ironisch, rotzig, immer wieder im Dialog mit den Lesenden. „Ich höre jetzt auf, weiterzuschreiben. Das hat keinen Zweck, denn ich versuche mir permanent vorzustellen, wer ihr seid, während ihr euch vorzustellen versucht, wer wir sind. Wir sind nicht so anders als ihr. Das denkt ihr nur, weil ihr uns nicht kennt. … Ihr wartet auf den Moment, in dem ich erkläre, wer von uns aus welchem Land kommt. Das nämlich müsst ihr wissen, bevor ich euch in uns eindenken könnt. … Ich sage euch dazu nichts. Da müsst ihr durch.“

Nein, wir erfahren nicht, in welche Schubladen Kasih, Hani und Saya gehören. Aber wir können lesen, wie ihre Kindheit roch. Wie sie zusammen abhängen, saufen, sich Geschichten erzählen, diskutieren. Sich verlieben und verlassen werden. Beim Jobcenter gedemütigt oder am Arbeitsplatz ausgenutzt werden und sich wehren oder auch nicht.

Bazyars Buch ist voller Sätze, die ich mir rot anstreichen möchte. Sie schreibt über Hani: „Durch Hanis Hinterkopf waberten verschiedene Sprachen, die sie in Deutschland niemals brauchen und die hier niemals als Kompetenz oder Qualitätsmerkmal anerkannt würden. In ihrem Gesicht stand die Neugier und das Interesse geschrieben, von uns zu lernen, was man lernen musste, um nicht aufzufallen. Nicht, weil sie so wissbegierig war, sondern weil alles andere zu Problemen geführt hätte. Aber Probleme hatte sie hinter sich gelassen.“

Kasih erzählt aus einem Deutschland, das ich erkenne, das aber in ihrer Schilderung plötzlich fremd und ein bisschen unheimlich wird. Ihre Schilderung der Politikerrunde nach einer Ost-Wahl würde ich hier am liebsten ganz zitieren (sie geht aber über mehrere Seiten). Nur eine kleine Kostprobe: „‘Rechtsruck‘. Was für ein merkwürdiger Begriff. Als handelte es sich um eine unaufhaltbare, mechanische Bewegung, die auf einmal durch ein völlig verblüfftes Volk geht. Wieviel fundierter wäre das Gespräch der Runde verlaufen, wenn man statt Rechtsruck Scheißeruck sagen würde. Einen Scheißeruck würden alle sofort stoppen wollen, statt so zu tun, als gehöre er zum Leben leider dazu.“

Kasih macht keinen Hehl daraus, dass ihre Version der zu erzählenden Geschichte eine unzuverlässige ist. Genauso unzuverlässig wie die Erzählungen der Mehrheitsgesellschaft über sie und ihre Freundinnen. Und führt mir damit vor Augen, dass auch meine Bilder, die ich mir von anderen mache, unzuverlässig sind.

Shida Bazyars Buch handelt vom Nicht-Sehen und Nicht-Verstehen und öffnet mir gerade deshalb die Augen.

Unbedingt lesenswert!