Claudia liest

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Ausnahmsweise mal ein Klassiker einer weißen Autorin, über Rassismus und Bürgerrechtsbewegung in den USA.

Ann Fairbairn, Und wählte fünf glatte Steine (deutsch 1969, englische Originalausgabe 1966)

Rowohlt Repertoire, 2018, 783 Seiten, 27 Euro. ISBN: 978-3-688-10931-9

„Da haben Sie sich aber was vorgenommen!“, meinte die Buchhändlerin, als ich neulich dieses Buch abholte. Das fast 800 Seiten dicke Taschenbuch liegt tatsächlich beim Lesen nicht besonders gut in der Hand.

Aber dann habe ich es an einem freien Wochenende einfach verschlungen. Ich bin völlig in diese Geschichte versunken, habe mit den Figuren mitgefiebert, mich gefreut und Tränen vergossen, und nachts davon geträumt.

Was ist das für ein Roman? Die Geschichte folgt dem Schwarzen David Champlin, geboren 1933 in New Orleans. Aufgezogen wird der Waisenjunge von seinem Großvater, einem Gelegenheitsarbeiter und Musiker. Er lebt in einer Welt fast ausschließlich Schwarzer Menschen, die Weiße nur als Rassisten und Ausbeuter kennen. Mit einer Ausnahme: Der dänischstämmige Professor Bjarne Knudsen nimmt sich Davids an und gibt ihm, als er nach einem Unfall monatelang im Krankenhaus liegt, Privatunterricht. Über seine Förderung wird David schließlich als Stipendiat an einem weißen College in Ohio angenommen. Die Schilderung, wie die wenigen Schwarzen Studierenden die weiße Welt des Colleges erleben, nimmt einen großen Teil des Romans ein und ist bis heute aktuell und ungemein lehrreich für weiße Leser*innen. Denn im College muss sich David nicht mit dem groben Rassismus des amerikanischen Südens auseinandersetzen, sondern mit dem feinen und impliziten Rassismus der gebildeten Nordstaatler*innen.

Im College trifft David auf die weiße Kunststudentin Sara – es ist bei beiden Liebe auf den ersten Blick. Aber wie kann eine Schwarz-weiße Beziehung in einer rassistischen Umgebung gelingen? Das ist eine der großen Fragen, die diesen Roman durchziehen. David will Sara nicht heiraten: In seinem Herkunftsstaat Louisiana sind Mischehen sowieso verboten, und in seiner Heimatstadt könnte er sich mit Sara nicht einmal auf der Straße zeigen. Und er weiß, dass Liebe nicht alles überwindet, und fürchtet, dass Sara den Rassismus nicht ertragen wird, den sie als seine Ehefrau ständig erleben würde.

David, begabt und fleißig, schließt das College ab, studiert Jura in Harvard und arbeitet für einen bekannten schwarzen Anwalt. Dann bekommt er ein Stipendium für ein Aufbaustudium in Oxford, und direkt darauf folgend die Berufung, für das amerikanische Außenministerium einen fiktiven afrikanischen Staat auf dem Weg in die Unabhängigkeit zu begleiten. Damit eröffnet sich für David und Sara die Perspektive, doch heiraten zu können…

Doch dann wird Davids Großvater auf der Straße von zwei weißen Rassisten gejagt und stirbt an einem Herzinfarkt. Und David entscheidet sich gegen die Karriere, gegen die Ehe mit Sara und für die Bürgerrechtsbewegung in den USA. Das letzte Drittel des Romans beschreibt im Detail seine Beteiligung an den Auseinandersetzungen in der Kleinstadt Cainsville: Dort gelingt es der Schwarzen Bevölkerung, einen Generalstreik und kompletten Boykott aller weißen Geschäfte trotz massiver weißer Gewalt zu organisieren und durchzuhalten. Als alles schon fast vorbei ist, wird David angeschossen, zusammengeschlagen und lebensgefährlich verletzt.

Sara, die inzwischen in Europa als Malerin erfolgreich ist, reist sofort zu David. Und nun scheint die Geschichte doch ein Happy End zu nehmen: David und Sara heiraten, David arbeitet nun im sicheren Norden als Anwalt für die Bürgerrechtsbewegung, und Sara erwartet ein Baby. Doch dann kehrt David noch einmal für einen Tag nach Cainsville zurück…

Der Titel, „und wählte fünf glatte Steine“, bezieht sich explizit auf die Geschichte von David und Goliath. Der Roman beginnt und endet mit Zitaten aus 1. Samuel 17. Die Geschichte von David und Goliath ist auch die Basis der Beerdigungspredigt für Davids Großvater, und diese Predigt ist es, die ihn in die Bürgerrechtsbewegung treibt.

Stärker als diese biblische Geschichte zieht sich aber ein Spiritual durch diesen Roman:

 Oh, Mary, don’t you weep, don’t you moan –

Oh, Mary, don’t you weep, don’t you moan –

Pharao’s army got drownded –

Oh, Mary, don’t you weep –

When we get to Heaven, gonna sing and shout –

Can’t nobody in Heaven throw us out –

Pharao’s army got drownded –

Oh, Mary, don’t you weep.

Davids Großvater singt ihn, während er für ein paar Cent Toiletten putzt. Schwarze Demonstrant*innen singen ihn, wenn weiße Polizisten gegen sie aufziehen. Und immer wieder wird dieses Lied gesungen, wenn Schwarze Menschen sich in Gottesdienst Kraft für ihren Alltag holen.

Warum empfehle ich dieses Buch?

Er ist erst einmal eine unglaublich gut geschriebene, prall geschilderte Lebens- und Liebesgeschichte, die die Leserin einsaugt und alles andere vergessen lässt. Und die mich, ganz nebenbei, vieles lernen und erkennen lässt.

Zum Beispiel über die Tücken des Ally-Seins. Immer wieder kommen in diesem Roman wunderbare, wohlmeinende weiße Menschen vor, die nicht erkennen können, welche verletzenden oder sogar gefährlichen Konsequenzen ihr Reden und Handeln für Schwarze Menschen hat.

Besonders eindrücklich im Gedächtnis ist mir eine Szene aus Davids College-Zeit geblieben: Er nimmt an einem Treffen einer Bürgerrechtsbewegungs-Gruppe teil, das von einem weißen, sehr engagierten Priester geleitet wird. An dem Abend geht es um Spirituals und ihren kulturellen Wert. David spielt und singt und performt für die Gruppe – und beginnt nach einiger Zeit mit „Were you there when they crucified my Lord.“ Und einer der schwarzen Studierenden gerät außer sich. David denkt: „Vielleicht war es das, was diese edel gesinnten Liberalen brauchten … vielleicht war es nötig, dass sie einmal einen Blick in die Seele eines Menschen taten…“ Und aus dem Schwarzen Mitstudenten bricht es heraus: „Die Worte, Pater. Hören Sie sie? ‚Warst du da – warst du da, als sie Jesus ans Kreuz schlugen? Sie waren nicht da, Pater; Sie waren nicht da. Jesus wird immerzu ans Kreuz geschlagen, immerzu, bei Tag und bei Nacht. Jedesmal, wenn ein weißer Mann zu einer schwarzen Frau geht, jedesmal, wenn ein kleiner schwarzer Junge das Wort (‚N‘) hört. Sie waren nicht da – aber mein Vater war da, und meine Mutter war da…“

Auch die Beziehung zwischen David und Sara macht immer wieder deutlich, dass Liebe und guter Wille nicht ausreichen. Gerade in ihrem Engagement für die Gleichheit zwischen Schwarzen und Weißen verletzt Sara David immer wieder, weil sie blind für die Gefahren ist, die ihre Beziehung für David bedeutet.

Ich habe aber auch viel gelernt über das Verbundensein und die Solidarität Schwarzer Menschen im Süden der USA und die Kraft, die daraus erwächst. An einer Stelle spricht David über das erste Schwarze Mädchen, das in Little Rock unter Polizeischutz in eine weiße Schule geht, und denkt laut darüber nach, wieviel Liebe und Geborgenheit dieses Kind in ihrer Familie und in ihrer Community erfahren haben muss, dass sie jetzt diese Anfeindungen so stoisch aushalten kann.

Kurzum: Ein Jahrzehnte altes Buch, das sich zu lesen sehr lohnt.

Aber ich kann das Buch leider nur mit einer Triggerwarnung empfehlen: Der Roman übernimmt unkritisch die in den 60er Jahren grassierende Queerfeindlichkeit. Am College denunzieren weiße Rassisten David fälschlich als queer, um seinen Verweis vom College zu erreichen. Es stellt sich heraus, dass schon mehrfach vorher Schwarze Studenten ihren Studienplatz und ihr Stipendium verloren hatten, weil sie angeblich queer waren. Queerfeindlichkeit dient also der Verschleierung rassistischer Unterdrückung. Wie das funktioniert, zeigt die Geschichte sehr gut. Nur wird leider an keiner Stelle die Queerfeindlichkeit der Institution und der damaligen Gesellschaft in Frage gestellt.